Nichts ist jämmerlicher als ein Mensch, der alles ergründen will, der die Tiefen der Erde, wie jener Dichter sagt, durchforscht und, was in der Seele seines Nebenmenschen vorgeht, zu erraten sucht, ohne zu bedenken, daß er sich genügen lassen sollte, mit dem Genius, den er in sich hat, zu verkehren und diesem aufrichtig zu dienen. Dieser Dienst aber besteht darin, ihn vor jeder Leidenschaft, Eitelkeit und Unzufriedenheit mit dem Tun der Götter und Menschen zu bewahren.
Unter den gebräuchlichsten Wahrheiten aber richte vorzüglich auf folgende zwei dein Augenmerk: erstens, daß die Außendinge mit unserer Seele nicht in Berührung, sondern unbeweglich außerhalb derselben stehen, mithin Störungen deines Seelenfriedens nur aus deiner Einbildung entstehen, und zweitens, daß alles, was du siehst, gar schnell sich verändert und nicht mehr sein wird. Und von wie vielen Veränderungen bist du selbst schon Augenzeuge gewesen! Erwäge ohne Unterlaß: die Welt ist Verwandlung, das Leben Einbildung.
Marc Aurel – Selbstbetrachtungen